Japanische Kultur in die Welt getragen
Die kenianische Umweltaktivistin Wangari Maathai, die als erste kenianische Frau den Friedensnobelpreis erhielt, stieß 2005 während eines Interviews in Japan auf das Wort „Mottainai (もったいない; 勿体無い)“ und war davon tief beeindruckt. Seitdem ist „Mottainai“ zu einem Schlagwort geworden, das nicht nur in Japan, sondern weltweit Aufmerksamkeit erregt. Und wer sich mit japanischer Küche und Kultur beschäftigt, für den ist dieses Stichwort ohnehin kein Unbekanntes.
Was bedeutet „Mottainai“?
Ursprüngliche Definitionen und Bedeutungsvielfalt
Der Begriff „Mottainai“ (勿体無い) enthält eine Vielzahl von Bedeutungsnuancen, die sich schwer direkt in westliche Sprachen übersetzen lassen. Hier einige zentrale Aspekte:
- Ehrfurcht und Respekt: Das Bewusstsein, dass etwas so kostbar ist, dass man es nicht leichtfertig behandeln darf
- Dankbarkeit: Ein Gefühl der Wertschätzung für alles, was man erhalten hat
- Bedauern bei Verschwendung: Die Erkenntnis, dass es „zu schade“ wäre, Ressourcen zu verschwenden
- Unzulänglichkeit (im Sinne von „Ich bin nicht würdig, dieses Wertvolle zu besitzen oder zu verschwenden“)
Abhängig vom Kontext kann „Mottainai“ also unterschiedliche Facetten annehmen. Die Etymologie des Wortes weist jedoch auf die Ursprungsform „勿体 (Mottai)“ hin, was einst „erhaben“ oder „feierlich“ bedeutete.
Die Wurzel des Wortes
Ursprünglich schrieb man „勿体“ (Mottai) als „物体 (Buttai)“, was „die wahre Natur der Dinge“ oder „die Art und Weise, wie etwas sein sollte“ bedeutet. Wird dies mit „無い (nai)“ – also Verneinung – kombiniert, lässt sich „Mottainai“ sinngemäß als „Es fehlt an der wahren Essenz einer Sache“ interpretieren. Im übertragenen Sinn drückt es aus, dass man etwas als derart wertvoll oder ehrfurchtgebietend betrachtet, dass Verschwendung einem Frevel gleichkäme.
Verbindung zu buddhistischen Ideen
Bemerkenswert ist, dass der ursprüngliche Sinn von „Mottainai“ stark mit den buddhistischen Lehren von „Kū“ (空, Leere) und „縁起 (engi; wechselseitige Abhängigkeit)“ übereinstimmt. Beide Konzepte besagen, dass nichts in dieser Welt unabhängig existiert und alles miteinander verbunden ist. Alles ist „ありがたい (arigatai; dankbar)“, und wir stützen uns gegenseitig. Im Kern bedeutet das: „Wir werden am Leben erhalten und sollten dafür dankbar sein.“
Dieses umfassende Bedeutungsgeflecht lässt sich schwer in andere Sprachen übersetzen – vermutlich hat auch Wangari Maathai gerade diese Tiefe von „Mottainai“ berührt.
„Mottainai“ und die Umwelt
3R, 4R und 5R
„Mottainai“ fasst in nur einem Wort die drei Hauptmaßnahmen der Umweltaktivitäten zusammen, die sogenannten 3R:
- Reduce (Reduzieren)
- Reuse (Wiederverwenden)
- Recycle (Wiederverwerten)
Darüber hinaus steht „Mottainai“ aber auch für den Respekt gegenüber allen Ressourcen der Erde, die unersetzlich sind. Wangari Maathai stellte den Begriff „Mottainai“ sogar auf einer Ministerkonferenz der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Frauenrechte vor und nutzte ihn als Schlachtruf für den Umweltschutz.
Inzwischen spricht man nicht nur von den 3R, sondern auch von den 4R und 5R. Häufig ist mit „4R“ das zusätzliche Refuse (Vermeiden) gemeint, und das „5R“ fügt noch Repair (Reparieren) hinzu. All diese Aktionen dienen einem nachhaltigen Ökosystem und spiegeln den Geist von „Mottainai“ wider.
Die Idee von „Yaoyorozu no Kami (八百万の神)“
Götter in allen Dingen
In der japanischen Tradition ist der Begriff „Kami (神)“ sehr weit gefasst: Man glaubt, dass Götter in allen Dingen und Naturphänomenen existieren. Diese Vorstellung wird als „Yaoyorozu no Kami (八百万の神)“ bezeichnet, was wörtlich „acht Millionen Götter“ bedeutet – sinnbildlich steht es für „unzählige Götter“. Dazu gehören Sonne, Mond, Sterne, Wind, Donner, Berge, Flüsse, Steine und sogar die Bereiche in einem Haus wie Küche, Bad oder Toilette.
Auch Tiere (z. B. Pferde, Hunde, Katzen) und Pflanzen (z. B. Bambus, Kiefer, Zeder) gelten als bewohnt von Kami.
Ursprung dieser Glaubenshaltung
In voragrarischen Zeiten lebten die Menschen in Japan vorwiegend vom Jagen. Mit der Einführung des Reisanbaus waren sie plötzlich Naturgewalten wie Unwettern oder Naturkatastrophen ausgesetzt, die ihr Überleben bedrohten. Dies führte zu dem Glauben, dass solche Phänomene Ausdrücke göttlichen Zorns sein könnten. Daraus entstand eine Einstellung, die das Göttliche in allen natürlichen Prozessen sucht und verehrt.
Diese Vorstellung, kombiniert mit dem Ahnenkult, bildete schließlich die einzigartige japanische Idee der „Yaoyorozu no Kami“. Sie ist eng mit dem Bewusstsein von „Mottainai“ verbunden, da beides auf Respekt und Dankbarkeit für alles Existierende beruht.
Verschiedene Facetten von „Mottainai“ in der japanischen Kultur
„Shimatsu (始末)“ – vom Anfang bis zum Ende
Ein Begriff, der besonders in Kyōto und Ōsaka in Alltagssituationen häufig verwendet wird, ist „Shimatsu (始末)“. Wörtlich bedeutet er „Anfang (始) und Ende (末) einer Sache“. Er beschreibt:
- den genauen Ablauf oder die Umstände einer Sache,
- das gründliche Aufräumen oder Abschließen,
- sowie sparsamen Umgang mit Geld und Ressourcen.
In der Küche zeigt sich „Shimatsu“ beispielsweise darin, dass man alle Teile eines Lebensmittels nutzt und verschiedene Gerichte daraus zubereitet. Eine Daikon-Rettich (大根) etwa wird zuerst frisch als geriebener Rettich oder Salat verwendet, an den Folgetagen gegrillt oder gekocht und später noch als Suppenzutat genutzt. So wird das Lebensmittel vollständig aufgebraucht – ohne Verschwendung.
Die Kunst, alles zu verwerten
Ähnlich verhält es sich bei einem teuren Fisch wie dem Red Snapper (Tai; 鯛): Wenn man Kopf, Knochen und Innereien zu Brühe oder anderen Speisen verarbeitet, lohnt sich der Kauf, weil nichts verloren geht. Das ist der Sinn von „Shimatsu“: Kreativität im Umgang mit Lebensmitteln, um Verschwendung zu vermeiden. Diese Herangehensweise ist auch ein Grund, warum die Küche in Kyōto und Ōsaka bekannt für ihre Finesse und Vielfalt ist.
Kimonos – nachhaltig vor Jahrhunderten
Der Kimono (着物), heute leider nur noch selten im Alltag getragen, ist ein sehr ressourcenschonendes Kleidungsstück. Ein Tanmono (反物) – eine Stoffrolle in fester Breite – wird für einen Kimono meist nur zusammengenäht, ohne den überschüssigen Stoff abzuschneiden, wie man es bei westlicher Kleidung tut. So kann ein Kimono an veränderte Größen angepasst werden.
Im Edo-Zeitalter (1603–1868) kauften oder verkauften die Menschen sehr häufig gebrauchte Kleidung. Sie wurde ausgebessert, zur Not in Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt. Nichts wurde verschwendet, selbst Babywindeln konnten aus abgetragenen Kimonos gefertigt werden. Damit praktizierte man bereits damals eine Art Kreislaufwirtschaft (Recycling Society).
Kintsugi (金継ぎ) – Die Schönheit im Bruch
Eine traditionelle japanische Reparaturtechnik für zerbrochene Keramik oder Lackwaren ist „Kintsugi (金継ぎ)“. Dabei werden Bruchstellen mit Lack (漆; Urushi) verklebt und anschließend mit Gold-, Silber- oder Metallpulver verziert.
Diese Technik ist mehr als nur Reparatur: Sie nimmt den Bruch als Teil der Geschichte des Gegenstandes an und schenkt ihm neues Leben. Die „Narbe“ wird betont, anstatt kaschiert. Dadurch spiegelt Kintsugi das japanische ästhetische Konzept der „unvollkommenen Schönheit (Wabi-Sabi)“ wider. Bereits in der Jōmon-Zeit (ca. 13.000–300 v. Chr.)lassen sich Spuren einer ähnlichen Technik nachweisen – die Idee, Dinge zu reparieren und weiterzuverwenden, hat also eine lange Tradition.
„Mottainai“ in der heutigen Zeit
Obwohl „Mottainai“ tief in Japans Geschichte verwurzelt ist, scheint das moderne Konsumverhalten in Japan oft in eine andere Richtung zu gehen. Ein übertriebener Glaube an neue Produkte und aufwendige Verpackungen ist ebenso auffällig wie die Anlehnung an den amerikanischen Massenkonsum. Doch seit Wangari Maathai den Begriff „Mottainai“ wieder ins Bewusstsein gerückt hat, gibt es auch in Japan zahlreiche Initiativen:
- Mottainai-Kampagnen
- Flohmärkte (Free Markets)
- Großangelegte Müllsammelaktionen
- Upcycling-Projekte (z. B. Produkte aus Restholz)
- Baumpflanzungen in Kenia
Ziel all dieser Aktivitäten ist es, das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu stärken. Die Hoffnung ist, dass diese neue „Mottainai-Welle“ sich weiter um den Globus ausbreitet und zu einer nachhaltigeren Gesellschaft beiträgt.